«Die Klasse wurde zu einer Art Familie»

Elf Klassen, elf Projekte, ein gemeinsames Leitthema: Unter dem Motto «Wir integrieren uns und andere» haben gegen 180 Lernende der Berufswahlschule Bülach in ihren Klassen während eines halben Jahres eine Projektidee entworfen, die Projektplanung betrieben und das Klassenprojekt letztlich selbstständig realisiert.

Fast etwas wehmütig wirkt Marcos Da Costa Paes (17), wenn er vom Projekt seiner Klasse erzählt: «Die Klasse wurde für mich in dieser Zeit zu einer Art Familie. Wir verstehen uns jetzt besser.» Zusammen haben die 14 Lernenden der handwerklich ausgerichteten Klasse PA4 einen Videoblog für junge Leute errichtet, attraktive Orte in und um die Stadt Zürich in Bild und Ton festgehalten und auf ihrem YouTube-Channel öffentlich gemacht. Nicht ohne Stolz fügt Mitschüler Alex Santana do Carmo (17) an: «Das Projekt war echt gut, es ist nichts wirklich schlecht gelaufen.» Erfahrungen fürs Leben hätten sie während des Projekts gesammelt, fügt ein weiterer Lernender an. Und er ist damit nicht allein: Klassenübergreifend berichten die Jugendlichen positiv von den gemachten Erfahrungen während des Projekts. Was aber verbirgt sich im Grundsatz hinter dem «Projekt»? Was tönt wie ein Codename aus einem italienischen Mafiosostreifen, ist die Kurzbezeichnung für das Persönliche Vorhaben (PV), ein zentraler Bestandteil des Rahmenlehrplans der Berufswahlschule Bülach. Elf Klassen, elf Projekte, ein gemeinsames Leitthema: Unter dem Motto «Wir integrieren uns und andere» haben die gegen 180 Lernenden der Berufswahlschule Bülach in ihren Klassen jeweils eine gemeinsame Projektidee entworfen, die Projektplanung betrieben und letztlich das Klassenprojekt auch realisiert. Hinter den Lernenden liegen fünf Monate intensiver Projektarbeit: Gehäufte Arbeitsstunden, kritische Diskussionen und hart errungene Kompromisse, gekrönt von der Projektrealisierung im Rahmen dreier Blocktage Mitte Mai.

Projektvielfalt von Wurst bis Wiederverwertung

Die von den Klassen angegangenen Projekte sind dabei so vielfältig wie die beteiligten Lernenden selbst. Allen Projekten gemein ist deren sozialer, ökologischer oder kultureller Hintergrund. Während sich die Integrationsklasse (ISK1) dem Thema Esskultur annahm und für eine grössere Gruppe Gerichte aus den jeweiligen Heimatländern der Schülerinnen und Schüler kochte, sorgten die zwei primär praktisch ausgerichteten Klassen PF1 und PF2 für eine Aufwertung des öffentlichen Raums: Mit grossem handwerklichem Geschick gossen die Jugendlichen aus Beton einen Grill und installierten diesen auf einem öffentlichen Spielplatz in Bülach, Würste und Steaks auf dem Grill zur Einweihung inklusive. «Das Planen und das Durchführen – beides hat mir Spass gemacht», resümiert Luca Commandeur (16), der im Sommer eine Ausbildung zum Informatiker in Angriff nimmt. Aus Beton und Holz entstanden ferner zwei Sitzbänke, die fortan den Spielplatz einer Primarschule in Bülach verschönern und anlässlich eines gemeinsamen Spielenachmittags mit den Primarschulkindern übergeben wurden. Zur Aufwertung des öffentlichen Raums trug auch die Klasse SB2 bei, eine von fünf Klassen des schulischen Angebots der BWS Bülach: Die Klasse setzte ihre Ressourcen im Kampf gegen Littering ein. Nebst dem Müll sammeln referierten die Jugendlichen vor Schulklassen zu Littering und liessen ihre eigenen Erfahrungen mit der Thematik sprechen. Frei nach dem Motto der Klasse: Gekommen, gesehen, aufgeräumt.

Miteinander statt gegeneinander

Das Miteinander, das allen Projekten zugrunde liegt, stellten auch weitere Klassen in den Fokus ihres Projekts: Die Klassen PA1 und PA2 forcierten den Dialog mit Jung und Alt – singend, bastelnd und spielend begegneten sie den Kleinsten im Kindergarten und Senioren in einem Altersheim. «Wir haben herausgefunden, wie es früher war», zeigt sich Rebecca Franca de Almeida (16) vom Besuch im Altersheim beeindruckt.

Der Integration vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationskrise verschrieb sich die Klasse SB1: Unter dem Titel «Stand up for refugees» engagierten sich die zwanzig Lernenden der schulischen Klasse während dreier Tage in der Betreuung von Flüchtlingskindern und mit einem Angebot an Deutschkursen für erwachsene Migranten. «Wir gaben den Asylanten Deutschkurse und erzählten ihnen Kurzgeschichten auf Deutsch», fasst Michalis Chatzimichalis (16), selbst Schüler mit griechischen Wurzeln, die Aktivitäten seiner Klasse im «Haus pour Bienne», einem sozialen Treffpunkt in Biel, zusammen.

Das gemeinsame Leitthema des Klassenprojekts auf eine ganz andere Weise angegangen ist die Klasse SF1, allesamt künftige Lernende in Gesundheits- und Sozialberufen: Mit sozialen Rollenspielen an prominenter Lage in der Stadt Zürich versuchten die Jugendlichen auf Vorurteile aufmerksam zu machen und zu Toleranz aufzurufen. Verkleidet als Burkaträgerinnen oder sogenannte «Emos» – Anhänger einer auf ein Subgenre des Hardcore-Punks zurückgehenden Szene, die aufgrund ihres Modestils mit mannigfaltigen Vorurteilen konfrontiert sind – suchten die Lernenden die Öffentlichkeit. Die jungen Frauen und Männer beobachteten die Reaktionen der Passanten, reflektierten das Geschehene und gewannen aus den emotionalen Eindrücken individuell wie auch als Gruppe wertvolle Erkenntnisse. «Man sollte Menschen nicht nach dem Aussehen beurteilen», betont Natalia Schellenberg (16) resolut. Mitschülerin Nadine Fuhrer (16) pflichtet ihr bei: «Wir konnten den Leuten zeigen, dass es nicht ums Aussehen geht, sondern ums Innere.» Beim Projekt wurden indes nicht nur die Passanten auf die Probe gestellt, auch für die Lernenden selbst waren die erlebten Situationen herausfordernd, wie Schellenberg bestätigt: «Es war eine gute Erfahrung, um meine eigenen Grenzen zu testen.»

Neuland betreten

Grenzen nicht nur ausgelotet, sondern bewusst überschritten haben die Lernenden der Klasse SB3. Sprachliche und kulturelle Grenzen, freilich. Mit wenigen Brocken Italienisch und den Eindrücken der Agglomeration Zürich im Gepäck begaben sich die Jugendlichen auf eine Reise ins Unbekannte, in die alpine Abgeschiedenheit hoch über der oberen Leventina. In Brugnasco (TI), einem Zwanzig-Seelen-Weiler ohne Highspeed-Internet, Shopping-Mall und Anbindung an den öffentlichen Verkehr, probten die Jugendlichen den Rückzug in die ländliche Idylle und die Anpassung an den Herzschlag einer Randregion. Eine Reise nach Plan? Nicht ganz, wie Eric Jassin Schweizer (16) mit einem Schmunzeln verrät: «Wir haben alles sauber organisiert, überall den Bus eingeplant – nur gab es gar keinen Bus.» Dennoch zieht Mitlernende Leonie Stapfer (17) eine positive Bilanz: «Wir haben gut zusammengearbeitet.»

Eine Zusammenarbeit, die auch für das Projekt «cycle4knowledge» der Klasse SF2 substanziell war: Nur mit dem Velo, ihrer eigenen Muskelkraft und einem Rucksack voller Schweizwissen legten die künftigen KV-Lernenden den Weg von Bülach hin zum Geburtsort der Schweiz, dem sagenumwobenen Rütli, zurück. Auf ihrer Reise machten die Lernenden Halt in Zürich und Luzern, um Passanten in mehreren Challenges knifflige Fragen zu deren Wissen über die Schweiz zu stellen – und die besten Teilnehmer auszuzeichnen. Vorbereitung, Reise wie auch die Challenges mit den Passanten wurden von den Lernenden auf Video festgehalten und in den sozialen Medien sowie auf der eigens für das Projekt erstellten Website publiziert. Ein anspruchsvolles Projekt, auf das die Projektchefin der Klasse, Sandra Zimmermann (17), entsprechend stolz ist: «Die Reise ist sehr anstrengend gewesen. Wir sind an unsere Grenzen geraten und haben trotzdem Spass gehabt. Das Highlight für mich war, dass die Leute in Luzern unsere Challenges sehr amüsant gefunden haben.»

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Unter der Schirmherrschaft des Aviatikpioniers

Ein Highlight, das in dieser Form ohne die finanzielle Unterstützung der gemeinnützigen Hirschmann-Stiftung kaum möglich gewesen wäre. Die vom verstorbenen Unternehmer und Aviatikpionier Carl W. Hirschmann gegründete Stiftung unterstützt Projekte mit integrativem Charakter, welche die Überwindung kultureller Barrieren ins Zentrum rücken. Projekte wie jene der Berufswahlschule Bülach, die für die Lernenden zu einem einmaligen, vielleicht gar unvergesslichen Erlebnis werden.

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